Bewertung: 5/5 Sterne

Filmkritik Deadstream

Tausche Zündkerzen gegen Likes

Found Footage ist tot? Au contraire, mon frére! Dank der zunehmenden gesellschaftlichen Fixierung auf Bildschirme wird’s in den letzten Jahren erst so richtig spannend. Social Networking, Online-Meetings, Streaming… das Leben ist online, der Horror folgt.

Die Handlung

Das ist Shawn, die olle Popelnase (Foto: Plaion Pictures)

Das ist Shawn, die olle Popelnase (Foto: Plaion Pictures)

Der Vlogger, also Video-Blogger, Shawn Ruddy hat sein Leben dem Publikum verschrieben und gibt richtig Gas für Klicks, Likes und dicke Sponsoren. Mit seinen Stunts und Mutproben erkaspert er sich eine stolze Anzahl an Followern. Die Sucht nach Ruhm wird ihm jedoch zum Verhängnis, als er zwei amerikanisch-mexikanische Männer anheuert, um ihn über die Grenze nach Mexiko zu schmuggeln. Fans und Geldgeber springen ab, weswegen Shawn nicht nur Buße tun muss, sondern nun auch eine richtig gute Idee braucht, um seine Karriere zu retten.

Der Masterplan für seinen nächsten großen Stunt: Stelle dich deiner größten Angst und verbringe eine Nacht in einem „echten“ Geisterhaus. Nach allen Regeln der technischen Kunst vermint Shawn das verlassene Domizil mit reichlich Kameras. Die Zündkerzen in den Busch und den Autoschlüssel in ein Abflussgitter geworfen, stellt er sicher, dass eine Flucht im Falle von Panik unmöglich ist. Ein böser Fehler, wie sich später herausstellt.

Wie sie sehen, sehen sie nix (Foto: Plaion Pictures)

Wie sie sehen, sehen sie nix (Foto: Plaion Pictures)

Die Fans sind begeistert und folgen ihm in seine Nacht in „Death Manor“. Profimäßig führt Shawn durch die dunklen Räume, berichtet von dessen Geschichte und richtet sich siegessicher seine „sichere Station“ ein. Unter der Befeuerung der ständigen Kommentare und Fragen der Follower, die alle Kameras einsehen können, wird plötzlich deutlich, dass im Haus tatsächlich paranormale Dinge geschehen.

Quotenclown Shawn geht langsam aber sicher der Podex auf Grundeis. Trotzdem beharrt er in seiner grotesken Rolle als Entertainer. Der Stream entwickelt sich schleichend zum Escape-Room des Todes und wird damit zum Überlebenskampf in Echtzeit.

Filmkritik „Deadstream“

Das Bett scheint schon belegt zu sein... (Foto: Plaion Pictures)

Das Bett scheint schon belegt zu sein… (Foto: Plaion Pictures)

Found-Footage-Filme sind spätestens seit „Blair Witch Project“ (1999) und „Paranormal Activity“ (2007) aus der Horrorlandschaft nicht mehr wegzudenken. Der Reiz darin besteht aus der Suggestion des Realen, was selbst sehr resistenten Gruselfans mit minimalen Mitteln die Eingeweide gefrieren lassen kann. Längst verlorenes Videomaterial wird gefunden und daraus ein Film rekonstruiert, der eine scheinbar real geschehene Geschichte mit wackeligen Amateuraufnahmen darstellt.

2014 tastete sich „Unknown User“ an die „Desktop-Variante“ heran, in der man das komplette Geschehen nur an einem Computer-/Laptopbildschirm sieht. Ein zeitgemäßes, digitales und effektives Tor zur Hölle wurde damit aufgetreten, was mit dem Pandemie-iniziierten „Host“ von 2020 im Rahmen eines Online-Meetings eine simple und doch effektive Punktlandung des Horrors erlebte.

Es ist keineswegs zu hoch gegriffen zu behaupten, dass „Deadstream“ als einer dieser „Desktop-Filme“ nochmal ein ganz neues Level betritt. Warum? Weil es in dem sensiblen und relativ jungen Segment nicht nur verdammt gruselig, sondern auch wirklich witzig ist. Die Figur Shawn Ruddy ist ein Sympathisant – ein nerdiger Typ, der sich für Klicks zum Affen macht. Da wir es sehen, als wäre es ein aktueller Stream, nur ohne die Möglichkeit zu interagieren, empfinden wir voyeuristische Schadenfreude, Mitleid und stellvertretende Angst.

Für ein strahlendes Lachen jeden Tag (Foto: Plaion Pictures)

Für ein strahlendes Lachen jeden Tag (Foto: Plaion Pictures)

Eine brillante Idee aus dem Hause Winter, wie wir finden. Denn was dieses wahnwitzige Konzept ebenfalls hervorhebt, ist das überschaubare Team. Shawn Ruddy, gespielt von Joseph Winter, schnappte sich Gattin Vanessa und konzipierte Schnitt, Regie, Drehbuch, Musik und Produktion im überzeugenden Debüt-Komplettpaket. Mit Darstellerin Melanie Stone als Chrissie bzw. Mildred und einer kleinen Gruppe Spezialisten renovierte das Team sieben Monate lang ein altes Haus, um „Deadstream“ wahr werden zu lassen.

Das Resultat dieser intimen und intuitiven Zusammenarbeit: ein B-Movie das dem Found-Footage-Genre mal so richtig Luft in den eingeschlafenen Hintern bläst. Die Balance zwischen Humor und echtem Schauern ist grandios abgestimmt. Ganz klar: New Media funktioniert auch auf der Kinoleinwand und erzeugt damit eine ganz neue und persönlichere Emotionalität als die bisher relativ geradlinig konzipierten Formate dieses potenten Horror-Subgenres.

Die Versionen

Unsere schöne Streaming-Perle ist schnörkellos und alternativ-frei auf eine sehr genussvolle Länge von 87 Minuten geschnitten worden. Die Altersfreigabe ab 16 ist absolut nachvollziehbar. Es wird zwar mehr gechattet als gesplattert, dennoch ist den Winters eine akut schaurige Atmosphäre gelungen, der man gewachsen sein muss.

Das Urteil von Horrormagazin.de

Shawn Ruddy’s Opfergang zur Wiedergutmachung ist so viel mehr als nur ein Horrorfilm. „Deadstream“ ist eine Gesellschaftssatire, eine Komödie, ein Big-Brother-Moment, eine Charakterstudie und ein fieser Horror-Ritt zugleich. Es sind solche Filme, die das Genre auffrischen und zeigen, dass simple Ideen so viel mehr erreichen können als die großen Brüder der einschlägigen Studios. Ein Riesenspaß, der Seinesgleichen nicht mal suchen muss, denn es gibt ihn nicht.

Bewertung: 5/5 Sterne

Der offizielle Trailer zum Film "Deadstream"

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Über Mallory Knox

Schon von klein auf kitzelte Mallory Knox das künstlerisch Spezielle. Filme hatten dabei immer einen besonderen Stellenwert. Nicht zuletzt durch die Ästhetik Cronenbergs verfiel sie dem Genre restlos und gibt jetzt schreibwütig ihren Senf dazu.
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